
Versteckte Kosten
Eines der medialen Top-Themen seit Monaten sind die steigenden Lebensmittelpreise. Doch schauen wir auf die seit Jahren bekannten Fakten, dann geben die Deutschen zwischen 11 und 12 Prozent ihrer Haushaltsausgaben für Nahrungsmittel aus. Damit liegen wir auf Platz 25 der 28 EU-Mitgliedsländer. Billiger geht es kaum in Europa. In sechs EU-Ländern liegen die Ausgaben sogar bei um die 20 Prozent.
Auch der Blick über den europäischen Tellerrand ist aufschlussreich. Laut Welthungerhilfe sind die globalen Lebensmittelpreise seit 2021 um fast 60 Prozent gestiegen. Sie nennt dies einen nie dagewesenen Preisanstieg. Dabei handelt es sich allerdings nur um den Durchschnitt, es geht noch viel schlimmer: Der Spiegel meldete Ende Juni, dass zum Beispiel im Libanon die Nahrungsmittel-Kostensteigerung im Mai bei 364 Prozent lag. Aber auch viele andere Länder, wie der Sudan (+ 145 Prozent) und die Türkei (+ 89 Prozent), haben massive Versorgungsprobleme. Das sind Preisexplosionen!
Hinzu kommt die Inflation. Auch hier hilft ein Blick über die Landesgrenzen hinaus. Die allgemeine Inflation im Euro-Raum stieg im Juni 2022 auf 8,6 Prozent, in Deutschland lag die Inflation bei 7,6 Prozent. In den drei baltischen Länder Estland (22 Prozent), Lettland (19,2 Prozent) und Litauen (20,5 Prozent) lag sie viel höher. Diese Länder hatten schon vor der Krise relativ hohe Ausgaben für Nahrungsmittel. Und wenn wir die Situation global betrachten, dann wird deutlich, dass unser Gejammer hier in Deutschland absolut unangemessen ist. Die Weltkarte macht klar, wie massiv die Probleme in vielen Ländern sind, und dass es meist die eh schon armen Länder und deren Bevölkerungen betrifft.
Die Inflationsangst lässt die Anbieter „hochpreisiger“ Lebensmittel auch in der Region alt aussehen. Nicht nur die Nachfrage nach Bio-Lebensmitteln bricht ein, auch viele konventionelle Anbieter, wie die oft zitierten Metzger oder Bäcker „ihres Vertrauens“, erleiden massive Umsatzeinbrüche. Momentan müssen unsere Lieferanten zum Beispiel ihre Bio-Eier zu Abertausenden für 7 Cent an den konventionellen Handel verramschen. Oder Reifekeller für Käse platzen aus allen Nähten, oder Landwirte können Tiere nicht schlachten, weil kein Metzger das Bio-Fleisch und die Bio-Wurst momentan vermarkten kann. Gewinner sind wieder einmal die Großkonzerne des Lebensmitteleinzelhandels (LEH), besonders die Discounter. Nachdem sie sich noch vor wenigen Monaten zu den grünen Rettern und zu ökologischen Saubermännern stilisiert haben, gibt es jetzt nur noch eine Botschaft an das Volk: „Dauertiefpreise“, „Inflationsstopp“ oder „Beste Qualität immer günstig“. Und obwohl wirklich mittlerweile allen klar sein sollte, dass Lebensmittel unter anderem angesichts der extrem gestiegenen Energiekosten teurer werden müssen, werden schon wieder heftige Kämpfe um die Krone für den billigsten Anbieter geführt. Im Juli wurde die erste Preissenkungsrunde bei Frischfleisch eingeläutet. Begründung: Es sei zu viel Fleisch auf dem Markt und man müsse diesen entlasten. Die Nachfrage sinkt wegen kollektiver Inflationsangst, die Übermengen steigen, der Druck auf die Bauern ebenfalls, und so kommt es zu der Situation, die schon hunderttausende Bäuerinnen und Bauern den Hof gekostet hat: Egal wie die Produktionskosten sind, die Allmächtigen des LEH bestimmen den Preis. Das werden viele Betriebe nicht überleben.
In der momentanen Preissteigerungshysterie im Land denkt die gesamte Nation anscheinend, und das kommt sehr selten vor, an die Bedürftigen in unserer Gesellschaft, die sich das Essen womöglich nicht mehr leisten können. Ich habe in den ganzen Jahren meiner Arbeit kein Argument gegen die Produktion von ökologischen Lebensmitteln häufiger gehört als den Einwand, dass Bio ja nur was für die Wohlhabenden im Land sei. Aber ist das so? Wir schaffen es nicht, den Wohlstand im Land so zu verteilen, dass es auch den unteren Einkommensschichten möglich ist, sich gesund mit ökologisch erzeugten Lebensmitteln zu ernähren. Ob diese Menschen und ihre Kinder dabei direkt Schaden nehmen und durch falsche Ernährung krank werden, interessiert dabei die meisten herzlich wenig. Obwohl es das sollte. Denn wir geben mittlerweile Abermilliarden für die Behandlung von ernährungsbedingten Krankheiten aus. Und wir wissen, dass sich die Menschen mit geringen Einkommen schlechter ernähren und dadurch krankheitsanfälliger sind. Dafür zu sorgen, dass die gesamte Bevölkerung Zugang zu gesunden Lebensmitteln bekommt, ist keine Frage der Agrarpolitik, sondern der Sozial- und Gesundheitspolitik. Ein großflächiger Ansatzpunkt wäre beispielsweise: Wenn in Kantinen und Mensen die Versorgung mit gesunden Lebensmitteln keine Option mehr wäre, sondern Standard.
Und schließlich ist die Forderung nach billigen Lebensmitteln auch deshalb vollkommen ignorant, da wir alle seit Langem wissen: Rund um den Globus werden Millionen von Menschen, besonders in der Lebensmittelindustrie, in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet. Die Böden sind verdichtet, die Erosion nimmt zu und dadurch die Bodenfruchtbarkeit stark ab. Das globale Artensterben hat apokalyptische Ausmaße angenommen. Die Gewässer sind mit Nitrat und Pestizidrückständen vergiftet. Viele Lebensmittel sind belastet und das Klima spielt verrückt. Ganz schlechte Aussichten für die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder. Eine im Juli 2022 erschienene Prognos-Studie beziffert die Schäden in Deutschland seit 2000 auf 145 Milliarden Euro. Allein in den Sommern 2018, 2019 und 2021 mussten 80 Milliarden für die Schadensbeseitigung aufgewendet werden. Man muss es sich halt etwas kosten lassen, so billig zu essen.
Und schließlich hat man ja auch noch viele andere unvermeidliche Ausgaben. Am 22. Juli berichtete das Schwäbische Tagblatt unter der Überschrift „Sparen beim Essen, nicht beim Reisen“ von neuesten Ergebnissen aus der Marktforschung. Gespart werde zurzeit durchschnittlich etwa 8,2 Prozent beim Fleisch- und Wurstkonsum, 8,5 Prozent bei Obst und Gemüse und sieben Prozent bei Backwaren. Und es werden nicht nur weniger, sondern auch billigere Lebensmittel eingekauft. Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) berichtet dafür, dass die Ausgaben fürs Reisen komplett in die andere Richtung verlaufen. Die privaten Buchungen gehen teilweise über die gebuchten Reisen von vor der Pandemie im Jahre 2019 hinaus.
Na dann: Guten Appetit!