
Unendliches Potential
„Das ist es, wovon die Bilder der Flut-Katastrophe eigentlich erzählen: vom Ende einer Lebensweise, von etwas, das unwiderruflich verloren ist. Wir können nicht weiter leben wie bisher, in diesem blinden autodestruktiven Modus, der die eigene Verletzlichkeit leugnet. […] Wir müssten zu trauern wagen, anstatt uns selbst zu belügen darüber, wovon wir Abschied nehmen müssen. Trauern über das, was bereits verloren ist: die Landschaft, die entstellt und ihrer Artenvielfalt beraubt, die Ressourcen, die ausgebeutet und erschöpft sind, die Gegenden, die unbewohnbar gemacht wurden und vor allem die Menschen, die ihr Leben verloren haben.[…] Erst danach kann die radikale Hoffnung beginnen, dass sich dringend retten lässt, was überhaupt noch zu retten ist.“ (Caroline Emke in der SZ vom 01. August 2021)
„Niemand kann einen Zweifel daran haben, dass wir uns in einem planetarischen Notfall befinden“, so beginnt der Bericht zum globalen Klimaschutz, den das Umweltprogramm der UNO in Zusammenarbeit mit dem Weltwirtschaftsforum und der Initiative für nachhaltige Landbewirtschaftung in diesem Jahr vorgelegt hat. Wir müssen wesentlich mehr Geld in die Hände nehmen, als bisher geplant, so der Appell. Ausgerechnet wurde von den Experten ein Finanzbedarf von 8 Billionen Dollar bis 2050. Die eindeutigen und eindringlichen Vorschläge lauten wie folgt: Um unser Klima und damit unseren Planeten vor dem Kollaps zu bewahren, müssen bis 2030 die jährlich geplanten Ausgaben von bisher gut 130 Milliarden Dollar auf 350 Milliarden Dollar steigen, bis 2050 sogar auf über 530 Milliarden jährlich.
Unfassbare Summen, möchte man meinen, aber ohne Probleme machbar! Wie das denn? Die UNO rechnet vor: 2021 wird mit einem weltweiten Bruttoinlandsprodukt BIP von knapp 100 Billionen Dollar gerechnet. 2022, so die Prognosen, soll es schon bei über 120 Billionen liegen. Alles in allem geht es also um etwas mehr als 0,1 Prozent des globalen BIP. Inger Andersen, die Exekutivdirektorin des UNO-Umweltprogramms kommentiert es so: „Es sind Peanuts, wenn wir offen darüber sprechen, wie wir […] unsere eigene Zukunft sichern können.“ Alles hänge von einem funktionierenden natürlichen System ab. „Unsere Gesundheit, die Qualität unseres Lebens, unsere Arbeitsplätze, die Temperaturregulierung, die Häuser, die wir bauen, natürlich die Lebensmittel, die wir essen, und das Wasser, das wir trinken.“
Die Regierungen weltweit seien in der Pflicht zu handeln, hält der Report fest. Sie sollten Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität und zur Eindämmung der Klimakrise in ihre Konjunkturprogramme aufnehmen. Sie sollten Steuersysteme reformieren und Subventionen umlenken: Die Milliardensummen dürften nicht weiter in fossile Brennstoffe und Agrarchemikalien investiert werden, sondern müssten zum Beispiel eine grünere Landwirtschaft fördern. Auch Unternehmen werden aufgefordert, in die Nachhaltigkeit von Lieferketten zu investieren und neue umweltfreundliche Projekte zu erschließen. Denn sonst, so die Prognose der Wissenschaftler, würden durch die Klimakrise ausgelöste Extremwetterereignisse – wie Dürren oder Überschwemmungen – die Geschäftskosten drastisch erhöhen. Außerdem bestünde die reale Gefahr für den zukünftigen Geschäftserfolg, dass sich Konsumentinnen und Konsumenten, die die Konzerne als Umweltsünder ausgemacht hätten, von ihnen abwenden würden.
Und wenn wir nichts machen? Oder einfach nur weniger? Wenn die neue Bundesregierung die dringenden Mahnungen nicht umsetzen will und die Konzerne weiter nur auf kurzfristigen Profit setzen? Im Juni 2021 veröffentlichte Oxfam eine Studie und warnte mit eindringlichen Worten vor den Folgen des Nichtstuns: „Die Klimakrise könnte die G7-Staaten im Jahr 2050 durchschnittlich 8,5 Prozent ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung kosten, wenn sie keine ehrgeizigeren Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakatastrophe ergreifen.“
Ende August diesen Jahres wurde eine Studie zu den extremen Starkregenereignissen im Juli in Westeuropa und insbesondere den deutschen Regionen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen von der World Weather Attribution-Initiative der Öffentlichkeit vorgestellt. Laut Studie hat die Klimakrise die Wahrscheinlichkeit und Heftigkeit der Flutkatastrophe im Juli erhöht. Es bestätigt sich, was auch der diesjährige Klima-Risiko-Index von Germanwatch festgestellt hat: Deutschland gehörte in den vergangenen 20 Jahren zu den 20 am massivsten von Wetterextremen betroffenen Ländern weltweit. Und Kai Bergmann, Klimareferent bei Germanwatch ergänzt: „Mit einem Klimaanpassungsgesetz müssen wir Vorsorgemaßnahmen ergreifen, um uns an das inzwischen Unvermeidbare der Klimakrise anzupassen. Noch haben wir aber zusätzlich die Chance, das Unbewältigbare für unsere Gesellschaft weitgehend abzuwenden, indem eine ambitionierte Klimapolitik den Anstieg der globalen Mitteltemperatur möglichst auf 1,5 Grad Celsius begrenzt. Unter anderem wird ein vorgezogener Kohleausstieg und ein Turboprogramm für den Erneuerbaren-Ausbau gefordert. Wie der Projektionsbericht 2021 von Germanwatch kürzlich ergab, sind die deutschen Klimaziele für 2030 und 2040 jetzt schon gefährdet.“
Und nicht nur die prognostizierten Billionen scheinen dabei kein ernsthaftes Problem zu sein, sondern auch die vorhandenen Ressourcen, z.B. bei den erneuerbaren Energien. In einem Report des britischen Thinktanks Carbon Tracker wurde errechnet, dass weltweit 0,3 Prozent der Fläche ausreichen, um mit erneuerbarer Energie hundertmal so viel Energieleistung zu erbringen, wie wir momentan global an Energie benötigen. Dies wird in dem Bericht eindrucksvoll veranschaulicht: In Saudi-Arabien liegt das weltweit größte Ölfeld mit einer Ausdehnung von 8.400 Quadratkilometer. Die aus dem geförderten Öl gewonnene Energie entspricht 1 Billiarde Wattstunden (einer Petawattstunde PWH). Würde man jetzt auf die verrückte Idee kommen, dieses Feld mit Photovoltaikanlagen auszustatten, könnte man eine Energieausbeute von 1,6 PWH im Jahr erreichen.
Der weltweite Energiebedarf beläuft sich derzeit auf etwa 65 PWH pro Jahr – aber mit Sonnenstrom (5.800 PWH) und Windstrom (900 PWH) steht mehr als genug Ökoenergie zur Verfügung, um ihn sauber zu erzeugen. Und dies geht sogar auch in ökonomischer Hinsicht durchaus auf für die Menschen. Schon bisher sind nach diesen Kalkulationen 60 Prozent des Sonnenstroms und 15 Prozent der Windenergie wirtschaftlich. 2030 werde Photovoltaik überall auf der Welt und Wind immerhin zur Hälfte so billig sein, dass es alle anderen Energieformen unterbietet. Und auch wenn Sonnen- und Windstrom natürlich mehr Fläche brauchen als eine Ölquelle oder eine unterirdische Kohlegrube – alle nötigen PV-Flächen zusammen würden nur 0,3 Prozent der Oberfläche des Planeten ausmachen, weniger als die Fläche, die derzeit fossile Infrastruktur belegt. „Jedes Jahr heizen wir die Klimakrise an, indem wir drei Millionen Jahre von fossilem Sonnenschein in Öl, Kohle und Gas verbrennen“, sagt Studienautor Harry Benham, „dabei nutzen wir nur 0,01 Prozent des täglichen Sonnenscheins.“
Besonders profitieren würden die sonnenverwöhnten Gegenden auf der Erde. Riesige Potenziale gibt es in Afrika, Südamerika und Australien. Auch Nordamerika und weite Teile Asiens haben noch mehr als zehnmal so viel Erneuerbaren-Potenziale, wie sie brauchen. Selbst im relativ sonnenarmen und kalten Deutschland haben wir noch 23-mal so viel technisches Potenzial wie alle unsere dreckige Kohle zusammen.
Das Fazit lautet also: Wir können einen massiven Einsatz von zukunftsfähiger Energie bezahlen, technisch lösen und durch Sonne und Wind nahezu grenzenlos ausschöpfen. Aber wir können es uns definitiv nicht leisten, Zeit auf diesem Weg zu verlieren. Und angesichts des unsäglichen menschlichen Leids, wie wir es in der sommerlichen Flutkatastrophe gesehen haben, gilt auch hier die schwäbische Volksweisheit „Zeit isch Geld“.