
Goldener Weizen
Laut Agrarstatistik wurden im Wirtschaftsjahr 2020/2021 weltweit 773 Millionen Tonnen Weizen produziert. Die weltweiten Lagerbestände lagen in der Prognose für das Wirtschaftsjahr 2021/2022 bei 279 Millionen Tonnen, sollte die erzeugte Menge in etwa gleichbleiben. Für den Verbrauch wurde ein neues Rekordniveau erwartet.
Der Krieg und die Welternährung
Doch der Kriegsbeginn in der Ukraine hat vieles verändert. Russland ist mit etwa 18 Prozent (35 Millionen Tonnen) Weltmarktanteil der größte Weizen-Exporteur, die Ukraine (12,0 Prozent) liegt auf dem fünften Platz. Dazu kommen extreme Hitze und Trockenheit in den USA, in Indien und im Nahen Osten, die zu erheblichen Ernteausfällen geführt haben. In vielen Ländern wie Ägypten, Indonesien oder dem Libanon sind die Brot- und Nudelpreise stark subventioniert und entsprechend politische Werkzeuge, um für innenpolitische Stabilität sorgen. Steigen die Preise für diese Grundnahrungsmittel zu stark an, wird der Hunger der Menschen hochgefährlich für die Regierungen. Das ZDF berichtete am 25.04.2022 im heute-journal, dass die Preise im Libanon in wenigen Monaten um 358 Prozent gestiegen seien, es drohe eine schwere Hungersnot.
Ungefähr die Hälfte des Getreides, das vom Welternährungsprogramm zur Versorgung von 125 Millionen Menschen weltweit eingekauft wird, kommt aus der Ukraine. Mit dem doppelten Schlag aus steigenden Lebensmittelpreisen und geringerer Weizenexporte sei eine Katastrophe nicht nur für die Ukraine, sondern auch global vorprogrammiert, warnte der Chef der UN-Einrichtung, David Beasley.
Kapitalanlage Lebensmittelrohstoffe
Wird Weizen, ebenso wie andere Lebensmittelrohstoffe, für Anleger und Spekulanten interessant, verändert sich das Gesicht des Handels mit solchen Produkten. Im Warenterminhandel kommt es bei 99 Prozent der Geschäfte zu keiner Lieferung irgendeiner Ware – die Positionen werden vorzeitig aufgelöst. „Die Leute machen ihre Wetten auf die Entwicklung der Preise in der Zukunft – das nennt man Spekulation“, sagt Eugen Weinberg, Leiter des Rohstoff-Research der Commerzbank und einer der besten deutschen Kenner von Rohstoffmärkten. Eine Spekulation, die auch Anlageberater genauer ins Visier nehmen. Experten raten heute dazu, im Portfolio auch Rohstoffe zu halten – diese folgen anderen Preisentwicklungen als etwa der Aktienmarkt. Bei www.finanzen.net heißt es: „Insbesondere im Börsenumfeld bieten sich Anlegern durch die gestiegenen Preise für Agrarrohstoffe, aber auch wegen der schwindenden Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zu alten Preisniveaus viele Chancen. Wenn Sie Weizen handeln und auf den Weizenpreis spekulieren möchten, gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten.“ Und „Der Aktionär“ schreibt: „Anleger sollten sich allerdings bewusst sein, dass sie indirekt auf steigende Nahrungsmittelpreise oder gar eine Lebensmittelkrise spekulieren würden.“
Was sind das bitte für Ratschläge? Seit Jahren wird gefordert, den Börsenhandel mit Lebensmittelrohstoffen zu verbieten. Unter der Überschrift „Nahrungsmittelspekulation – mit Essen spielt man nicht.“ schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung: „Anfang der 2010er Jahre riefen zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler*innen und internationale Organisationen wie die Welternährungsorganisation FAO zu einem Ende der preistreibenden Spekulation mit Nahrungsmitteln auf.“ Sowohl in den Jahren 2007/2008 als auch 2011 waren die Weltmarktpreise für wichtige Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen binnen kürzester Zeit explodiert. Die Preisanstiege bzw. -schwankungen lösten weltweite Nahrungsmittelkrisen aus. Nicht nur die FAO war davon überzeugt, dass die spekulativen Geschäfte als ein zentraler Grund für die extremen Preisausschläge und den Anstieg der Hungernden weltweit galten.
Hans R. Herren, Gründer der Biovision Stiftung, die 2013 den Alternativen Nobelpreis erhalten hat, äußert sich unmissverständlich zu den Spekulationspraktiken und den Machtverhältnissen im globalen Lebensmittelmarkt: „Die Weltgemeinschaft hat eigentlich genug zu essen, die Reserven reichen zumindest für eine gewisse Zeit. Das ist nicht das akute Problem. Der Preisanstieg in den vergangenen Wochen beruht zu großen Teilen auf Spekulation. Ich finde es unglaublich, dass man mit Ernährung spekulieren darf (…). Zum Beispiel kreiert man einen künstlichen Mangel, hält riesige Mengen an Getreide zurück, in der Hoffnung, dass der Preis steigt und man später teurer verkaufen kann. Die vier Unternehmen Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus Company kontrollieren etwa 80 Prozent des weltweiten Getreidehandels. Sie haben eine große Macht.“
Weizenernte in Deutschland
In Deutschland beträgt die Weizenernte ungefähr 22 Millionen Tonnen, davon werden 18,8 Millionen Tonnen im Inland verwendet. Allerdings werden nur etwa 20 Prozent des insgesamt verfügbaren Speisegetreides (Weizen, Hafer, Mais) für den direkten menschlichen Verzehr genutzt. Fast 60 Prozent geht in den Futtertrog. 16 Prozent wird als nachwachsender Rohstoff für die Energieerzeugung und für die (Stärke-)Industrie verwendet. Welche Entscheidungen müssen in Deutschland angesichts der drohenden Hungerkrise getroffen werden?
Dazu hat Cheflobbyist und Bauernpräsident Joachim Rukwied eine klare Meinung.
Er fordert u.a., die EU-weit geforderte Stilllegung von vier Prozent der Ackerfläche zu halbieren. Also weniger Artenschutz. Und man müsse den Bauern ausnahmsweise gestatten, Weizen nach Weizen zu säen. Also mehr chemisch-synthetischer Pflanzenschutz durch erhöhten Krankheitsbefall. Er fordert außerdem mehr Tierhaltung in Deutschland, sprich noch mehr Gewässerbelastung und noch mehr Speisegetreide für den Futtertrog. Tierhaltung sei, so Rukwied, für die Produktion von Nahrungsmitteln nach wie vor unersetzlich. Seiner Meinung nach haben die Tiere durch die ebenfalls explodierenden Preise für Düngemittel sogar eine gestiegene Bedeutung: Man brauche mehr Nutztiere und noch mehr Weizen als Futtermittel, um mit dem dadurch entstehenden Mehr an Tierdünger höhere Erträge auf den Feldern zu erzielen, auf denen Weizen als Nahrungsmittel angebaut wird. Logisch, oder?
Wäre es stattdessen nicht viel vernünftiger, im Zuge einer Sicherung der Ernährung hunderter Millionen Menschen genau das Gegenteil zu tun und wertvolle Lebensmittel nicht in den Schweinetrog zu werfen? Da kämen in Deutschland über 10 Millionen Tonnen, in Europa über 70 Millionen Tonnen jährlich zusammen. Oder die Produktion von Bio-Sprit aus Nahrungsmitteln zu verbieten? Laut der Präsidentin der deutschen Welthungerhilfe, Marlehn Thieme, könnte man „allein mit der amerikanischen Spritproduktion 320 Millionen Menschen ernähren.“
Um dies allerdings jemals möglich zu machen, müssen wir hier im globalen Norden aufhören, mit Bio-Sprit unsere CO2 Bilanz aufzuhübschen und auf die billige Grillwurst verzichten. Selbst die Hälfte der dadurch freiwerdenden Ressourcen könnte man im Kampf gegen den globalen Hunger wahrlich gut gebrauchen!