
Enttäuschende Agrarpolitik
Das englische Wort „gap“ wird übersetzt mit „Lücke“, „Abstand“, „Kluft“ oder auch „Diskrepanz“. Gleichzeitig ist GAP das Kürzel für die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union.
Die Grundlagen dieser Gemeinsamen Agrarpolitik, die mit einem Betrag von 387 Milliarden Euro für die nächsten sieben Jahre den zweitgrößten Haushaltsposten der Gemeinschaft darstellt, wurde von den 27 europäischen Landwirtschaftsminister*innen und, mit kleinen Änderungen, auch vom EU-Parlament Ende Oktober beschlossen. Was jetzt in der finalen Verhandlungsphase im Januar noch kommt, ist allenfalls Kosmetik . Seit der Finanzkrise 2007 haben wir in Deutschland ja ein merkwürdiges Verhältnis zu Staatsausgaben entwickelt. Ich habe manchmal das Gefühl, die öffentliche Wahrnehmung schaltet sich nur noch bei Ausgaben im Billionenbereich ein. Beim GAP geht es um fast 40 Prozent des gesamten europäischen Haushaltbudgets. Auch keine Kleinigkeit, könnte man sagen. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass nur ca. 1,5 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung in der Landwirtschaft erzielt wird. Verhandlungsführerin war unsere „senfmäßig“ sehr präsente Ministerin Julia Klöckner.
Ebenfalls im Oktober, noch vor der Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse zur GAP, gingen Wissenschaftler von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Union der deutschen Akademien und Wissenschaften mit einer gemeinsamen Studie unter dem Titel „Biodiversität und Management von Agrarlandschaften – Umfassendes Handeln ist jetzt wichtig“ an die Öffentlichkeit. Im Vorwort schreiben sie u.a.: „Die Zukunft der Landwirtschaft und ihre Verantwortung für die biologische Vielfalt ist seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver Diskussionen. Die Agrarlandschaft ist trotzdem seit geraumer Zeit in besonderem Maße von einem dramatischen Rückgang von Tier- und Pflanzenarten betroffen. Um einerseits das Funktionieren des Ökosystems aufrecht zu erhalten und andererseits ein wirtschaftliches Arbeiten in der Landwirtschaft weiterhin zu ermöglichen, ist es notwendig, die Rahmenbedingungen unserer Landwirtschaft grundlegend zu überdenken (…) Der Zustand der Biodiversität in der Agrarlandschaft erfordert rasches Handeln von allen Beteiligten und insbesondere von der Politik mutige Entscheidungen.“
Da scheint die neue GAP zur gap zu werden. Zur Kluft zwischen dem groß angekündigten europäischen Green Deal von Ursula von der Leyen sowie den aktuellen Empfehlungen namhafter Wissenschaftler*innen und der offensichtlichen Verweigerung durch die Agrarpolitik unter Federführung von Frau Klöckner, einen Systemwechsel einzuleiten. Die Kritik fällt dementsprechend auf breiter Front vernichtend aus:
- 60 Prozent der Gesamtzahlungen werden weiterhin an die Fläche der Betriebe gebunden. Das bedeutet, dass den größten Teil der Subventionen diejenigen Betriebe bekommen, die die größte Fläche bewirtschaften. Und damit die höchsten externen Produktionskosten verursachen durch Artensterben, Gewässerbelastung, Erosion u.a. Somit setzt sich fort, was aus ökologischer und letztendlich auch aus ökonomischer Sicht katastrophal ist und seit Jahrzehnten subventioniert wird: Eine fortschreitende Industrialisierung der Landwirtschaft.
- Nur 30 Prozent der Direktzahlungen sollen für eine „Ökologisierungsprämie“, sogenannte „Eco-Schemes”, reserviert werden. Da Umweltmaßnahmen in Zukunft freiwillig sein werden, gibt es keine Pflicht, in nachhaltige Praktiken zu investieren.
- Es soll zwar eine Deckelung der Direktzahlungen pro Betrieb und Jahr von 100.000 € geben, allerdings werden diese immer noch als zu hoch angesehen, um einen echten Systemwechsel einzuleiten. Auch steht von Seiten der Minister noch der Vorschlag zur Debatte, diese Obergrenze von den Nationalstaaten souverän bestimmen zu lassen. Somit wäre es diesen möglich, nur die größten Betriebe mit hohen Summen zu fördern, um so die eigene Wettbewerbssituation national und international zu verbessern.
- Es wurde versäumt, in Sachen Fleisch- und Milchproduktion grundsätzlich neue Ziele anzuvisieren und diese entsprechend zu finanzieren. Dabei scheint es mittlerweile fast jedem außer den europäischen Agrarpolitikern klar zu sein, dass ein derartig hohes Maß an tierischen Lebensmitteln auf unserem Speiseplan nicht zukunftsfähig ist.
- Auf lediglich fünf Prozent der landwirtschaftlichen Fläche soll verpflichtend die Biodiversität über sogenannte ökologische Vorrangfläche gestärkt werden. Allerdings gibt es kein explizites Pestizidverbot auf ökologischen Vorrangflächen mehr. Der Schutz von Feuchtgebieten und Mooren, wie ursprünglich von der Kommission vorgesehen, wird ausgehebelt. Feuchtgebiete und Moore, die eigentlich jetzt schon unter Schutz stehen, sollen laut neuer GAP erst ab 2025 “angemessen“ geschützt werden. Was angemessen bedeuten soll, ist völlig unklar. Die Verpflichtungen zur Erhaltung der Flächen in einem „guten ökologischen Zustand“ wurde aus dem Vorschlag der Kommission gestrichen.
Die Frau Ministerin ist sehr zufrieden mit den Verhandlungsergebnissen. Sie twitterte am 21. Oktober: „Geschafft! Ein Meilenstein für eine Neuausrichtung der EU-Landwirtschaft, in deren Mittelpunkt die Grüne Architektur steht. Für Deutschland heißt das: 1 Mrd. € unseres Budgets werden für Ökoregeln/Biomaßnahmen eingesetzt, gleichzeitig Balance gehalten mit Einkommens- und Ernährungssicherung.“ Der Präsident des Deutschen Bauernverband, Herr Joachim Rukwied, stimmt dankbar zu: „Das Ergebnis des Agrarrates zur Gemeinsamen Agrarpolitik ist ein notwendiger und letztendlich auch tragbarer europäischer Kompromiss.“
Die zahlreichen Kritiker hingegen lassen kaum ein gutes Haar an dem Kompromiss. Greenpeace kommentiert: „Setzt sich der Rat bei der Reform der EU-Agrarpolitik durch, drohen sieben verlorene Jahre, die wir dringend bräuchten, um den dramatischen Verlust der Artenvielfalt auf dem Land zu stoppen und eine zukunftsfähige bäuerliche Landwirtschaft aufzubauen.“ Sven Giegold, als Agrarexperte für die Grünen im EU-Parlament, zieht folgendes Fazit: „Im Angesicht von Klimakrise und Artensterben ist diese Agrarreform ein Armutszeugnis.“ Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) meint: „Wie so die Biodiversität geschützt und der Beitrag der Landwirtschaft zum Klimaschutz deutlich erhöht werden kann, bleibt ein Rätsel.“ Greta Thunberg schreibt dazu auf facebook: „Mit seiner Entscheidung hat sich das EU-Parlament elf Monate nach Ausrufung des Klima-Notstands hinter eine Agrarpolitik gestellt, die - zusammenfassend - die ökologische Zerstörung mit fast 400 Milliarden Euro antreibt.“ „Was die EU-Staaten und das -Parlament vorlegen, ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die Landwirtschaft klima- und umweltfreundlich machen und machen wollen. Von Systemwechsel keine Spur.“ schreibt der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW). Sogar für Jan Plagge, Präsident vom Bioland e.V., sind die Beschlüsse zur GAP ein Rückschritt für den Umwelt- und Klimaschutz. „Klöckner spricht von einem Systemwechsel und einem fundamentalen Schritt hin zu mehr Nachhaltigkeit. Genau das Gegenteil ist der Fall. Mit dieser Ausrichtung der GAP zementiert Europa den umweltpolitischen Stillstand in grünem Geschenkpapier und ignoriert die Vorschläge der EU-Kommission konsequent.“ Auch sein Vorstandskollege von Demeter zeigt sich entsetzt über die Beschlüsse des EU-Agrarministerrat: „Die EU-Agrarminister haben über den Agrarhaushalt entschieden, als gäbe es weder eine uns existenziell gefährdende Klimakrise noch eine Umweltkrise mit schwindender Artenvielfalt, ausgelaugten Böden und verschmutztem Wasser! Das Europaparlament hat es mit seinen Kompromissen zu strategischen Punkten nicht viel besser gemacht.“
Was soll man da noch hinzufügen? Meine persönlich Meinung vielleicht: Wir werden in den nächsten Jahrzehnten vermutlich einen ökologischen und ökonomischen Kollaps erleben, der wissenschaftlich auf eine akribisch analysierte Art und Weise angekündigt wurde, wie dies in der Menschheitsgeschichte noch nie möglich war. Und der trotzdem nicht verhindert wurde. Weil wir uns nicht trauen. Weil Politiker*innen wie Frau Klöckner an den Machthebeln sitzen. Aber es gibt auch andere Stimmen, sogar aus Klöckners eigener Partei, nämlich von Bundestagespräsident Wolfang Schäuble: „Es stimmt, wir haben mit den Prozessen, die uns diesen unglaublichen, atemberaubenden Wohlstand gebracht haben, Kosten erzeugt, die zu hoch geworden sind. Wir haben es mit dem Kapitalismus übertrieben. Das sieht man an den Steueroasen. Am Klimawandel, am Artensterben, am Zustand der Ozeane. Wenn ich von 38 Grad Außentemperatur in Sibirien lese, wird mir ganz anders … “ ( SPIEGEL-Gespräch, SPIEGEL vom 27.10.2020 ). Hoffen wir, dass diese Erkenntnis sich auch unter der jungen Politiker*innen- Generation durchsetzt.