
Der Welt geht die Zeit aus
Vor 35 Jahren saß ich mit anderen jungen und auch älteren Menschen vor den Toren militärischer Einrichtungen, u.a. an den Atomwaffenlagern Engstingen und Mutlangen, um die Zu- und Ausfahrt ziviler und militärischer Fahrzeuge zu behindern. Unser „Meisterstück“ war die komplette Blockade des EUCOM, immerhin die europäische Kommandozentrale der USA in Stuttgart. Gegen die nukleare Nachrüstung der NATO ließen sich viele Menschen zu großen Demos mobilisieren, für die Sitzblockaden hingegen war nur ein sehr kleiner Kern verantwortlich. Diese Form des Widerstands war für die allermeisten keine Option. Aber selbst auf Seiten der Befürworter*innen der Nachrüstung wurden die Blockierer*innen, zumindest soweit ich mich erinnere, nicht als Öko- bzw. Friedens-Terrorist*innen bezeichnet. Es wurde nie eine bundesweit koordinierte Razzia in der Szene der Widerständler*innen durchgeführt, es gab nie die Forderung nach Präventivhaft und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass jemals eine Stadt zivile Protestaktionen, im aktuellen Fall die der Letzten Generation in München, grundsätzlich verboten hätte.
Unglaublich, aber wahr: Die Klimaaktivist*innen stehen mittlerweile unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. „Vor dem Hintergrund vermeintlich ausbleibender konkreter klimapolitischer Erfolge versuchen Linksextremisten, ihre Aktionsformen einschließlich der Begehung von Straf- und Gewalttaten als legitimes Mittel im politischen Meinungskampf zu rechtfertigen, und deuten dazu den Begriff ‚ziviler Ungehorsam‘ um.“ (Jahresbericht des Verfassungsschutzes, S.143). Unter anderem ist der Slogan „system change, not climate change“ für manche Verfassungsschützer*innen eine „unzweideutige Parole“ zum Sturz der demokratischen Grundordnung.
Heribert Prantl von der Süddeutschen kommentiert die bayrische Vorbeugehaft gegen die Aktivist*innen so: „Die fehlenden Voraussetzungen für einen Haftbefehl werden hier durch eine echte oder angebliche ‚Gefahrenlage‛ ersetzt; der Störer wird ‚Gefährder‛ genannt; die Gefahr ist der Stau, und der Haftgrund heißt dann Populismus. Aus Verfolgungsvorsorge wird verkappte Verfolgung, aus Prävention Repression.“
Auch der schon mehrmals wegen „illegalen“ Containerns in Haft genommene Jesuitenpater Jörg Alt hat sich den Protestierenden angeschlossen. „Ich bewundere diese Leute unendlich für ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit.“ Es sei richtig, sich mit Straßenblockaden dem Auto, „dem Symbol für unser fossiles Weiter-So“, in den Weg zu stellen.“
Doch nicht nur konservative Politiker*innen oder besorgte Verfassungsschützer*innen sorgen für ordentlich Gegenwind, auch Teile der Bevölkerung zeigen zunehmend aggressive Reaktionen gegen die Letzte Generation. In der Hamburger Philharmonie hatten sich Aktivist*innen vor einem Konzertbeginn ans Dirigenten-Pult geklebt. Die anwesende Solistin und Stargeigerin Julia Fischer beschreibt die Szenerie folgendermaßen: „Natürlich ist der erste Gedanke, was wollen die? Wollen die verhindern, dass wir spielen? Aber auch Dirigent Tugan Sokhiev hat gelassen reagiert, das Publikum gebeten, einfach zuzuhören. Für mich und den Dirigenten war das keine dramatische Situation.“ Zu den Reaktionen des Publikums, mit Buh-Rufen, „Raus“-Geschrei sowie Jubel und Szenenapplaus, als die Aktivist*innen von der Bühne geführt wurden, sagte sie: „Ich war extrem überrascht, wie heftig das Publikum reagiert hat.“ Bei einer anderen Protestaktion in München brüllten Autofahrer „Ihr seid doch bekloppt“ oder „Geht doch arbeiten“, auch vor Handgreiflichkeiten gegen die Demonstrant*innen wird nicht zurückgeschreckt.
Erinnern wir uns doch mal kurz an die Ausgangslage, die zu den sogenannten „terroristischen“ Aktionen geführt hat. Dazu sollen ein paar Kenner*innen in Sachen Klimawandel zu Wort kommen:
Der UN- Generalsekretär Antonio Guterres äußert sich folgendermaßen zur Situation: „Wir sind in einem Kampf auf Leben und Tod um unsere eigene Sicherheit heute und unser Überleben morgen.“ Und an anderer Stelle: „Wir sind auf einem Highway in die Klimahölle und haben den Fuß auf dem Gaspedal. Die Welt brennt und ertrinkt vor unseren Augen.“
Die WMO (Weltorganisation für Meteorologie) geht davon aus, dass die Durchschnittstemperatur in diesem und den kommenden vier Jahren zwischen 1,1 und 1,7 Grad über vorindustriellem Niveau liegen wird. WMO Generalsekretär Taalas wiederholte seine Warnungen vor einem fortgesetzten Treibhausgas-Ausstoß und den daraus resultierenden wärmeren und saureren Weltmeeren, einer Schmelze von Meereis und Gletschern, steigenden Meeresspiegeln und extremeren Wetterlagen. Die arktische Erwärmung sei unverhältnismäßig hoch. Was in der Arktis passiert, betreffe uns alle.
Der Weltklimarat IPCC warnt eindringlich davor, dass es bald unmöglich sein wird, die Erderwärmung unter 2°C, geschweige denn unter 1,5 °C, zu halten. Einer der Autoren, Volker Krey, warnt: „Mit den gegenwärtigen Ambitionen ist das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr erreichbar, und selbst das 2-Grad-Ziel wird sehr herausfordernd, wenn wir die Ziele nicht bis 2030 nachschärfen. Mit den derzeitigen Klimaschutzmaßnahmen würden die meisten Länder ihre eigenen Ziele verfehlen und die Welt im Jahr 2100 wohl eher auf 3,2 Grad zusteuern. Weiter wie bisher ist also definitiv keine Option.“
Diese Informationen sind uns natürlich längst bekannt. Seit Jahren werden die Warnungen der Wissenschaftler*innen immer lauter und schriller und die Frage ist, wie sich die Sprache denn noch stärker radikalisieren soll, als es die von Herr Guterres bereits ist. Oder ist es schlichtweg überfällig, Taten des zivilen Ungehorsams anzuwenden gegen die anhaltende politische Ignoranz?
Carolin Emcke schreibt in ihrer Kolumne „Restlaufzeit“ folgendes: „Zeit ist die ultimative Währung der Klimakrise. Verlorene, ignorant vergeudete Zeit bei der Reduktion der Treibhausgase lässt sich nicht mehr einholen. Es ist wie auch bei der Pandemie ein Leben in Wenn-dann-Funktionen, bei dem jede Unterlassung in der Gegenwart in absehbarer Zeit unweigerlich bestraft wird. (…) Die im Abkommen von Paris beschlossene Begrenzung der globalen Temperaturerhöhung um 1,5 bis 2,0 °C heißt adrett-harmlos ‚Klima-Ziel‛, als ob dies nur ein beschwipster Vorsatz fürs neue Jahr wäre, an den zu halten sich ohnehin niemand verpflichtet fühlt. Es gibt ökologische Grenzen der Ignoranz, sie werden euphemistisch ‚Kipp-Punkte‛ genannt, als ob sich danach fröhlich weiter schaukeln ließe, aber es sind in Wahrheit Abgründe ohne Wiederkehr. Irreversibel heißt übrigens irreversibel. Unumkehrbar. Jede späte Einsicht ist dann nicht spät, sondern zu spät.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.