
Der Preis für Tierwohl (ist vielen zu hoch)
Alle Augen sind momentan auf die fehlenden Mikrochips gerichtet und auf die Auswirkungen für die Autobauer. Ja, und wir haben mittlerweile auch mitbekommen, dass Baumaterial fehlt oder in vielen anderen Bereichen Lieferengpässe bestehen. Ja, nicht nur in Großbritannien.
Doch in Deutschland ereignet sich bei den Schweinebauern gerade eine existenzielle Katastrophe nicht gekannten Ausmaßes ganz anderer Art. Es gibt viel zu viele Schweine in Deutschland und Europa. Ich wurde auf das Thema eigentlich erst so richtig aufmerksam, als mir meine Mutter im August berichtete, dass zwei Schweinemastbetriebe, einer im eigenen Dorf, der andere im Nachbardorf auf der Schwäbischen Alb, ihre Ställe leergeräumt hätten. Um die 3000 Tiere. Diese Größe galt noch vor wenigen Jahren als zukunftsfähig. Und sie hatten wohl noch Glück im Unglück. Denn es gibt Berichte von Landwirt*innen, die ihren Beschluss, den Stall zu räumen, nicht umsetzen können, weil niemand da ist, der ihnen die Tiere abkauft.
Nach neuesten Zahlen gibt es in Deutschland 25 Millionen Schweineplätze. Produziert werden im Jahr gut fünf Millionen Tonnen Fleisch. Was ist passiert, dass die Not vieler Betriebe gerade jetzt so groß ist? Für die Situation gibt es unterschiedliche Ursachen. Zum einen wird in Deutschland immer weniger Schweinefleisch gegessen. Das ist ein seit Jahren fortlaufender Trend. Besonders dramatisch war der Einbruch im Corona-Jahr 2020 mit geschlossenen Gaststätten und gestrichenen Grillpartys. Dies hat dazu geführt, dass riesige Mengen Fleisch einfach nicht absetzbar waren. Einiges liegt noch in Tiefkühlhäusern und entwickelt bis heute Druck auf den Preis. Und auch der Lebensmitteleinzelhandel spielt eine unrühmliche Rolle. Trotz eines vollkommen aus den Fugen geratenen deutschen Schweinemarkt wird billiges Fleisch importiert und in den Verkauf gebracht. Aber schon vor Corona lag der Selbstversorgungsgrad in Deutschland bei 125 Prozent. Export war also stets das Zauberwort. Und Deutschland ist Europameister darin. So hat es die Agrarpolitik seit Jahren empfohlen und subventioniert. 2020 wurden netto knapp 1,4 Millionen Tonnen ausgeführt. In Europa machen sich die deutschen Exporteure seit Jahren Feinde mit Dumpingpreisen.
Steigende Mengen gingen jahrelang in den asiatischen Raum, besonders nach Russland und China. Mit Russland bremsten die Sanktionen der EU das Geschäft. China verhängte, bis dahin mit Abstand größter Abnehmer von deutschem Schweinefleisch, einen kompletten Importstopp, seit die afrikanische Schweinepest auch in Deutschland ausgebrochen war. Und beide Länder haben in den letzten Jahren massiv in die eigene Schweinefleischproduktion investiert und riesige Stallanlagen mit zehntausenden von Tieren gebaut, zum Teil über mehrere Stockwerke. Die weltgrößte Schweinefarm mit 84.000 Tieren steht in China. 2020 wurden in dem Land etwas über 41 Millionen Tonnen Fleischprodukte bei 527 Millionen geschlachteten Schweinen produziert. China ist schon seit einigen Jahren der weltweit größte Produzent mit steigender Tendenz. Auch Russland hat mittlerweile einen gesättigten inländischen Markt und setzt verstärkt auf Export.
Aktuell wird damit gerechnet, dass in den kommenden Jahren weitere 60 Prozent der knapp 23.000 deutschen Schweinehalter aufgeben werden. Die durchschnittliche Bestandsgröße liegt momentan bei 1200 Tieren. Aufgeben werden die „kleinen“ Betriebe und übrig bleiben Großmäster, die den Rahmenbedingungen noch entsprechen können. Angesichts der Entwicklungen am weltweiten Markt ist dies natürlich ein frommer Wunsch und ohne jede Aussicht auf Erfolg.
Bei den derzeitigen Preisen, so das Ergebnis verschiedener Berechnungen, legen die Bauern bis zu 55,- Euro pro Mastschwein drauf. Seit Anfang Juni diesen Jahres stürzen sie ins Bodenlose, u.a. auch deshalb, weil China seit Mai Importe erschwert, um die eigene, ständig steigende Schweinefleischproduktion zu schützen. Dies wiederum forciert den Preiskampf unter den europäischen Produzenten. Da hilft nur noch: Ställe so schnell wie möglich leer bekommen.
Anfang des Jahres nahm Lidl seinen „Bauernsoli“ wieder zurück, den er pressewirksam im Dezember 2020 zur Rettung der Bäuerinnen und Bauern eingeführt hatte. Die Konkurrenz zog in den folgenden Tagen mit und senkte ebenfalls die Preise. Für Agrarprofessor Ulrich Enneking von der Hochschule Osnabrück ist das keine Überraschung. Wie er im Interview mit dem Zeit Magazin (Februar 2021) erklärt, komme noch hinzu, „dass die Händler versuchen, die Kundschaft vor allem über ihr Fleischangebot in die Läden zu locken. [...] Früher war Fleisch der wichtigste Bestandteil des Wocheneinkaufs. Wer mit günstigem Fleisch werben konnte, ging davon aus, dass die Leute dann auch den Rest des Einkaufs dort erledigen. Dieser Preiskampf hat sich über die Jahrzehnte immer weiter verschärft.“
Mitte September hat Frau Klöckner wieder einen „Schweinegipfel“ einberufen. Branchenvertreter*innen sollten sich zusammen mit der ach so besorgten Landwirtschaftsministerin um die armen Bauern kümmern. „Mehr Scheingipfel als Schweinegipfel.“ titelt dazu das Portal agrarheute.com. Auch Greenpeace lässt kein gutes Haar an Gipfel und Ministerin: „Julia Klöckner hat nichts unternommen, um die betroffenen Bäuerinnen und Bauern beim anstehenden fundamentalen Umbau der Tierhaltung zu unterstützen. Stattdessen will sie jetzt den inländischen Konsum sowie den Export von Schweinefleisch durch Absatzförderung ankurbeln. Dieser hektische Aktionismus mit kurzfristigen Eingriffen in den Markt wird aber weder das strukturelle Überangebot an Schweinefleisch noch die ökologischen Probleme lösen.“ Die Bauernstimme, ein Organ der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), kommentierte den Gipfel so: „Die Regierungsfraktionen haben die Umsetzung der guten Vorschläge systematisch blockiert, statt sie für die Praxis umzusetzen und den tierhaltenden Betrieben eine Perspektive zu bieten.“
Laut dem Klöckner’schen Ministerium würde die Transformation der Nutztierhaltung durch Mehrkosten von 47 Cent pro Kilo Fleisch und Fleischprodukte gelingen. Nach dem Ernährungsreport 2020 des BMEL ist die Mehrzahl der Befragten bereit, zugunsten von mehr Tierwohl tiefer in die Tasche zu greifen. Fragt sich nur, wie tief? Eine aktuelle Befragung der Uni Osnabrück zeigt, dass sich nur 16 Prozent der Einzelhandelskund*innen für Fleisch-Artikel mit dem Tierwohl-Label entschieden und lediglich Preisaufschläge von etwa 30 Cent akzeptierten. „Wir wissen jetzt, dass die beobachtete Realität beim tatsächlichen Kaufverhalten differenzierter und komplexer ist. Die grundsätzliche Bereitschaft, im Test mehr Geld für solches Fleisch auszugeben, ist nur bedingt ausgeprägt.“ sagt Prof. Dr. Ulrich Enneking. Sein ernüchterndes Fazit lautet: „Die Angst davor, etwas Ungesundes zu essen, ist viel größer als der Wunsch, Tieren ein besseres Leben zu ermöglichen oder sich mit Bauern solidarisch zu verhalten.“