
Chlorpyrifos — der IQ-Killer?
Im Winter, wenn man in der guten Stube sitzt, verbreitet sich beim Schälen einer Orange dieser unglaublich tolle Duft durch den ganzen Raum. Außerdem strotzt diese Frucht nur so vor Vitaminen und Mineralstoffen. Nicht so erfreulich ist die Tatsache, dass auf konventionell erzeugten Orangen regelmäßig das Insektizid Chlorpyrifos (CPF) gefunden wird. Dieses Pestizid ist eines der am häufigsten angewandten Mittel und ist in der EU seit 2006 zugelassen. In Deutschland ist der Wirkstoff in der kommerziellen Landwirtschaft seit 2008 verboten, in 20 anderen EU-Staaten wird er aber weiterhin eingesetzt.
Ende 2018 tauchten nun erhebliche Zweifel an einer rechtmäßigen Zulassung des Mittels auf. Unter anderem berichtete der BR am 16.11.2018: „Der Umweltmediziner Philippe Grandjean, Professor an der US-amerikanischen Universität Harvard, und der Wissenschaftler Axel Mie vom schwedischen Karolinska-Institut konnten Rohdaten einer bisher unveröffentlichten Studie des Herstellers Dow Agro Sciences einsehen, die Teil des europäischen Zulassungsantrags war. Dabei stießen sie auf gravierende Unstimmigkeiten. Laut den Wissenschaftlern geht aus den Rohdaten hervor, dass CPF in Tierversuchen den Aufbau des Gehirns schon bei geringer Dosierung schädigte.“ Dieser Effekt werde jedoch im Fazit der Herstellerstudie von 1998 unterschlagen. „Es ist schockierend herauszufinden, dass eine Studie, die Teil des Zulassungsantrags war, fehlerhaft ist, und dass die Behörden das nicht bemerkt und diese akzeptiert haben“, so Grandjean.
Schon vor über sechs Jahren, am 01.05.2012 berichtete der Spiegel von dem damals auch in Deutschland gängigen Schädlingsbekämpfungsmittel, das bleibende Schäden am Gehirn von Kindern im Mutterleib verursache. Schon damals wurde bekannt, dass selbst bis dahin als ungiftig eingestufte Mengen des Insektizids Chlorpyrifos negativ in die Entwicklung der Ungeborenen eingreifen. Wie US-Forscher im Wissenschaftsmagazin “Proceedings of the National Academy of Sciene“ berichteten, seien die Ergebnisse besorgniserregend. Denn das Insektizid Chlorpyrifos wurde und wird in der Landwirtschaft weltweit noch immer häufig eingesetzt.
Die 2012 noch geltenden Grenzwerte, die nur auf der direkten Giftwirkung des Chlorpyrifos basieren, waren nach Ansicht der Wissenschaftler nicht ausreichend, um Kinder vor diesen Langzeitfolgen des Insektizids zu schützen. „Wir haben bei den stärker belasteten Kindern signifikante Anomalien in der Hirnoberfläche gefunden“, berichteten sie. Ihre Ergebnisse deuteten außerdem darauf hin, dass bereits eine vorgeburtliche Belastung durch CPF, wie sie im Alltag auftreten kann, messbare Effekte auf die Hirnstruktur der Kinder hatte, so die Wissenschaftler im Fachblatt PNAS. „Wir beobachteten im Zusammenhang mit höherer vorgeburtlicher CPF-Belastung deutliche Abweichungen in der Morphologie der Oberfläche des Gehirns.“ Darüber hinaus seien Hinweise auf schädliche Effekte auf die allgemeine Denkfähigkeit und den Intelligenzquotienten zu beobachten gewesen.
Weitere Studien zur schädlichen Wirkung von CPF wurden 2010 und 2011 an derselben Universität veröffentlicht. Die Ergebnisse wurden durch Kollegen von der University of California in Berkeley bestätigt. Obwohl die Gruppe der untersuchten Kinder relativ klein war, und die Wissenschaftler wussten, dass dies ein Kritikpunkt an ihrer Veröffentlichung sein würde, zeigten sie sich überzeugt davon, dass ihre Forschungsergebnisse eine hohe Relevanz haben. Ihre Überlegung war, dass die damals gegenwärtigen Grenzwerte auf mutmaßlichen Fehlannahmen hinsichtlich der Wirkung des Giftes basierten und deshalb nicht verhinderten, dass die Hirnentwicklung von Kindern, die dem Stoff ausgesetzt waren, geschädigt wurde.
Und was sagen die deutschen Behörden dazu? Die beiden in Deutschland für den Haus- und Kleingartenbereich zugelassenen Mittel erfüllen „die Bestimmungen der EU und alle gesetzlichen Anforderungen“, heißt es im BVL (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit). „Sie erfüllen auch die zusätzlichen Kriterien für den Haus- und Kleingartenbereich. Unter diesen Umständen hat das BVL die Zulassung bewilligt.“
Das PAN (Pestizid-Aktions-Netzwerk) schrieb daraufhin einen offenen Brief an das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Darin forderten sie eine direkte Stellungnahme des Instituts zu den Ergebnissen der Studie von Rau et al. (2012). Doch aufgrund „methodischer Mängel“ erlaube die Studie keine Schlussfolgerungen für das Zulassungs- bzw. Genehmigungsverfahren, hieß es in der Antwort. Das BfR versprach jedoch „weiterhin die relevanten toxikologischen und epidemiologischen Studien zu Chlorpyrifos [zu] verfolgen und in die gesundheitliche Risikobewertung [einzubeziehen]. Als methodischen Mangel bezeichnete das BfR genauer den Ausschluss möglicher anderer Ursachen für die Gehirnveränderungen, die seiner Ansicht nach nicht zwingend auf die pränatale Chlorpyrifos-Exposition zurückzuführen seien. Welche anderen Einflussfaktoren denn als Ursache für die Veränderungen infrage kommen, beantwortete das BfR hingegen nicht.
Dann eine Meldung des BLV vom Oktober 2013: „Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat am 2. Oktober 2013 die Zulassung des Pflanzenschutzmittels „Insekten-Streumittel NEXION NEU“ (Zulassungsnummer 024135-00) mit dem Wirkstoff Chlorpyrifos widerrufen. Der Widerruf erfolgte auf Antrag des Zulassungsinhabers. Für Ware, die sich bereits im freien Verkauf befindet, galt anschließend eine Abverkaufsfrist bis zum 2. April 2014. Für Anwender galt eine Aufbrauchfrist bis zum 2. April 2015.
In einem gemeinsamen Bericht des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie des BfR hieß es dann 2017 dazu unter anderem, dass eine „akute Beeinträchtigung der Gesundheit“ als möglich erachtet werde.
Am 04.08.2018 hatte ein Appellationsgericht in den Vereinigten Staaten die EPA (Environmental Protection Agency) angewiesen, das Mittel innerhalb von 60 Tagen zu verbieten. Mit folgender Begründung: „Chlorpyrifos wirkt sich negativ aus auf die Entwicklung des Gehirns von Kindern, ist neurotoxisch und stört das Hormonsystem.“
Am 09.08.2018 gab es vom PAN Germany einen öffentlichen Aufruf. Darin stand unter anderem, dass „Chlorpyrifos [] hochgefährlich und dennoch eins der derzeit am häufigsten verwendeten Insektizide in Europa [ist], auch wenn in Deutschland keine Präparate mehr zugelassen sind, die diesen Wirkstoff enthalten. Chlorpyrifos wirkt neurotoxisch, stört das Hormonsystems und hat Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung von Kindern. Rückstände von Chlorpyrifos belasten Lebensmittel und lassen sich im Trinkwasser nachweisen.“ Doch die derzeitige EU-Genehmigung für den Wirkstoff läuft noch. Sie endet vorläufig am 31. Januar 2019.
Ende November 2018 jedoch hat die Europäische Kommission die Zulassung für diese Substanz bis zum 31. Januar 2020 verlängert. Wann wird es endlich soweit sein, dass der In-Verkehr-Bringer von chemisch-synthetischen Stoffen nachweisen muss, dass keinerlei Gefahren von seinem Produkt ausgehen? 20 Jahre sind vergangen, und immer noch wird dieses Mittel in der europäischen Lebensmittelerzeugung eingesetzt.