
Arme Schweine – Über Fleischproduktion in Deutschland
Im Jahre 1930 veröffentlichte Berthold Brecht ein Theaterstück mit dem Titel „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Johanna Dark, eine Heilsarmistin, versucht die katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen Chicagos zu verbessern.In der Kurzbeschreibung steht dazu unter anderem folgender Satz: „Am Ende erkennt die sterbende Johanna, dass ihre Hoffnung auf Gott und Verhandlungen mit den Kapitalisten gescheitert sind und dass sie den Arbeitern, denen sie helfen wollte, nur geschadet hat.“ Irgendwie erstaunt es mich nicht, dass das Problem der prekären Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen schon ziemlich lange existiert.
Deshalb ist für mich die gesellschaftliche Empörung in Coronazeiten schwer zu ertragen. Der Ausbruch der Corona-Infektionen in den Schlachtfabriken interessiert hierzulande viele eigentlich nur insofern, als dass sie um den Fortbestand ihrer billigen Lebensmittelversorgung fürchten. Nun ist aus aktuellem Anlass eine politische Diskussion über die sogenannten Werkverträge ausgebrochen. Und auch diese ist keinesfalls neu. 2015 wird im Stern vom damaligen Wirtschaftsminister Gabriel berichtet: „Wenn ich mir die Wurst aufs Brötchen lege, will ich mir nicht die Frage stellen müssen, unter welchen abscheulichen Bedingungen die hergestellt worden ist“. Manches, was dort passiere, sei „(…) nah an organisierter Kriminalität, ’ne Schande für unser Land“.
Die Werkverträge sind die organisatorische und strukturelle Grundlage dieser Ausbeutung. In den 1970er und -80er Jahren sind sie hierzulande unter dem Begriff „Outsourcing von Teilaufgaben“ innerhalb eines Produktionsprozesses aufgetaucht und seither immer umfassender als Mittel der Kostensenkung eingesetzt werden. In der deutschen Fleischindustrie wird überwiegend mit Werkverträgen gearbeitet. „Dadurch können sich die Schlachthöfe vollkommen ihrer Verantwortung für die Arbeitsbedingungen entziehen“, sagt Johannes Jakob vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Auch die Einhaltung eines Mindestlohnes sei nicht wirklich zu kontrollieren. Ebenso Arbeitsschutz- und Gesundheitsschutzmaßnahmen. Durch die Beschäftigung von Menschen, die nur wenig Deutsch können, sei „ [ … ] der Ausbeutung Tür und Tor geöffnet“. Außerdem seien, wegen der weitreichenden hygienischen Anforderungen bei unangemeldeten Kontrollen, die Vorbereitungen vor dem Eintritt in einen Produktionsstandort zeitlich derart aufwendig, dass „bis dahin vor Ort alles so eingerichtet werden kann, dass es den Regeln entspricht.“ Dies stellt natürlich die politische Forderung nach mehr externer Kontrolle und deren Wirksamkeit sehr in Frage.
Wie sind die wirtschaftlichen Strukturen, die hinter dieser systematischen Ausbeutung von Menschen steht? Wer sind die Verantwortlichen für diese Arbeitsverhältnisse? Schauen wir genauer hin:
Das Handelsblatt meldete im März diesen Jahres, dass der Primus der deutschen Fleischindustrie, die Tönnies Holding, ihren Umsatz 2019 zum ersten Mal auf über sieben Milliarden Euro gesteigert hat. Die Schlachtzahlen (20,8 Millionen Schweine und 440.000 Rinder) seien dabei kaum gestiegen. Der höhere Umsatz ließe sich durch einen Anstieg der Importnachfrage in China erklären. Insgesamt machen fünf Großkonzerne über zwei Drittel des deutschlandweiten Umsatzes im Fleisch-Business aus.
Clemens Tönnies, oberster Boss des Fleischgiganten, machte sich schon Ende März, als sich erhebliche Reisebeschränkungen aus Osteuropa ankündigten, öffentlichkeits-wirksam Sorgen um seine Mitarbeiter. „Wir machen unseren Mitarbeitern aus Süd- und Osteuropa klar, dass sie in Zeiten von Corona hier bei uns am sichersten sind und gesundheitlich am besten versorgt“, sagt Tönnies. Schließlich seien alle Tönnies-Mitarbeiter – ob direkt angestellt oder per Werkvertrag – in Deutschland sozial- und krankenversichert. „Das ist für uns ein Kostenfaktor, der sich jetzt in der Krise auszahlt“, betont der Unternehmer. Ist er nicht rührend besorgt, der Herr Tönnies? Dass er sich das leisten kann – krankenversicherte Arbeitnehmer*innen – ist schon toll – nicht? Die haben diese jetzt auch bitter nötig angesichts der hohen Ansteckungszahlen in den Schlachthöfen. Irgendwas ist wohl schiefgelaufen bei der Tönnies’schen Fürsorge.
Dabei ist die Tönnies Holding nicht irgendwer im globalen Fleisch-Business. Die großen deutschen Fleischkonzerne gehören zu den global playern, die also auch maßgeblich für das Wohl und Wehe der Schlachthof-Mitarbeiter*innen mitverantwortlich ist. Tönnies beispielweise liegt mengenmäßig weltweit auf dem fünften Platz der Schweineschlachter. Von den 50 Millionen Schweinen, die in Deutschland pro Jahr aufgezogen und geschlachtet werden, kommen fast die Hälfte bei Tönnies unters Messer. Die deutschen Betriebe haben einen Anteil von 3,8 % an der weltweiten Schweinefleischproduktion. Da wir ca. 20 % bzw. 10 Millionen Schweine mehr als den Eigenbedarf produzieren, liegen wir auf der Liste der weltweit größten Schweinefleischexporteure auf Platz 3 mit einem Marktanteil von fast 16 %. Wichtigster Kunde ist China mit 25 % der Exportmenge. Und das war auch im ersten Quartal 2020 so. Wir sind also nicht irgendwer im Fleischbusiness. Wir spielen weltweit in der ersten Liga mit.
In Corona-Zeiten steht natürlich auch dieser Schweinemarkt in Deutschland erheblich unter Druck. Unter normalen Umständen werden hierzulande jährlich circa 60 kg Fleisch pro Kopf verzehrt. Gut die Hälfte ist vom Schwein. Die Nachfrage, besonders über die Gastronomie, ist in den vergangenen Monaten stark zurückgegangen. Ebenso ist der Export fast zum Erliegen gekommen. Nur nach China hat sich die Export-Menge im ersten Quartal um 65 % gesteigert. Die dort seit Mitte 2018 grassierende afrikanische Schweinepest hat den Importbedarf auf 3 Millionen Schweine pro Jahr, u.a. aus Deutschland, in die Höhe schnellen lassen. Trotzdem steht der Schweinepreis im Inland enorm unter Druck und fiel im Mai 2020 unter die für Schweinemäster noch rentable Schwelle. Jede weitere Produktion kostet die Mastbetriebe Geld. Aber was sollen sie machen, wenn die Ställe voll sind und die Tiere Hunger haben?
Ende Mai kündigten Aldi Süd und Nord eine Preissenkungsrunde bei Schweinefleischprodukten für Anfang Juni an. „Von einem an die Lieferanten gerichteten Brief des Discounters Aldi Süd berichtet die Lebensmittelzeitung (LZ). Darin kündigt Aldi Süd an, die rückläufige Entwicklung der Preise für Schweinefleisch in Form von günstigeren Angeboten für den Kunden nutzen zu wollen. Auch Aldi Nord habe ein solches Interesse geäußert. Ein Nachziehen weiterer großer Handelsketten sei zu befürchten. Eine bis zum 1. Mai 2020 rückwirkende Senkung der Einkaufspreise könnte auf die Lieferanten zukommen. Aldi hält dieses Vorgehen auf Nachfrage für „partnerschaftlich“. Für die Hersteller nehme der Kostendruck in der Corona-Krise durch die geplanten Preissenkungen weiter zu, berichtet die LZ. Aldi dagegen berufe sich auf die Orientierung an Angebot und Nachfrage sowie auf die Einbeziehung von Qualität und Leistung.
Die Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands e.V. (ISN) erklärt, dass es „schamlos“ sei die Lage der Lieferanten noch weiter zu verschärfen, und nennt die Aldi-Begründung eine „Heuchelei“. Der Deutsche Tierschutzbund meint: „Wer nur den Profit sieht und die Marktlage ausnutzt, jegliche Missstände offenen Auges ignoriert und Verbrauchern Fleisch und Wurst als Ramschware anpreist, der offenbart das Fehlen jeglichen Verantwortungsbewusstseins: für die Landwirte, die Lohnarbeiter und für die Tiere!“
Dem ist nichts hinzuzufügen!