
Wie Corona die Menschheit vereint
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, keinen „Corona-Senf“ zu schreiben. Von morgens bis abends haben wir analog und digital dieses Thema am Hals. Doch dann fiel mir im Januar eine brandaktuelle Studie der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam mit dem Titel „Das Ungleichheitsvirus“ in die Hände und ich beschloss, einen Blick über den Pandemie-Tellerrand zu wagen.
Um es gleich am Anfang klarzustellen: Es gibt aufgrund der Corona-Pandemie große Belastungen und großes persönliches Leid in unserem Land. In Europa kämpfen die Menschen vielerorts gegen den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kollaps. Diese vielfältigen negativen Folgen sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen oder gar zu verharmlosen.
Doch die Folgen der Pandemie sind besonders verheerend in den Ländern des globalen Südens. Dort lässt die Pandemie die Not vieler Menschen auf ein neues Allzeithoch ansteigen. Die ohnehin schon ungleichen Einkommens- und Machtverhältnisse verschieben sich immer noch weiter, auch zugunsten global agierender Mega-Konzerne.
Entwicklungsminister Gerd Müller sagte der Neuen Osnabrücker Zeitung am 30. Januar in einem Interview, „man dürfe die globalen Folgen der Pandemie nicht außer Acht lassen.“ Im globalen Vergleich halte er die Diskussion über Impfstoffmangel in Deutschland für überzogen. Weltweit müsse in den Ausbau der Produktionskapazitäten investiert werden. Müller rechnet vor, dass ca. 125 Milliarden Euro nötig wären, um die Menschen in den ärmsten Ländern zu impfen. Aber es steht nicht gut um den Impfstoff für diese Menschen. Selbst für die von der WHO (Weltgesundheitsorganisation) organisierten 600 Millionen Impfdosen, die bis Ende 2021 für die Ärmsten der Armen bereit stehen sollen, gibt es noch keine Finanzierungszusage von den reichen Ländern.
Zum Vergleich die Pandemie-Zahlen der reichen Länder: Bundeswirtschaftsminister Altmaier taxierte Ende 2020 die Kosten für die Folgen der Pandemie allein in Deutschland auf bis zu 1500 Milliarden Euro. In der EU hat man sich auf Hilfsgelder von 750 Milliarden Euro verständigt, um die größte Not zu lindern. Und die USA mit ihrem neuen Präsidenten Biden gehen von Aufwendungen in einer Höhe von 2000 Milliarden Dollar aus. Unsummen, die sich nur die reichen Länder auf unserem Globus leisten können. Für den „Rest“ (schätzungsweise 3,6 Milliarden Menschen – also knapp die Hälfte der Weltbevölkerung) wird es vielleicht, so die Prognosen, noch Jahre dauern, bis ihnen ein Impfschutz zur Verfügung steht.
Die Oxfamstudie macht deutlich, dass arme Menschen nicht nur in Sachen Impfschutz die Verlierer der Pandemie sind, sondern sich auch ökonomisch auf der Verliererstraße befinden. Die 1000 reichsten Milliardär*innen haben ihr Vermögen schon nach neun Monaten Pandemie wieder auf den Stand von vor dem Virusausbruch gebracht. Das Vermögen der zehn reichsten Menschen, alles weiße Männer, ist seit Februar 2019, trotz der Pandemie, sogar um 500 Milliarden auf 1120 Milliarden US-Dollar gestiegen. Damit wären diese Männer theoretisch in der Lage, einen kostenlosen Impfschutz für die gesamte Weltbevölkerung anzubieten. Für die Ärmsten der Armen könnte es jedoch Jahre, wenn nicht sogar ein Jahrzehnt dauern, so Oxfam, bis sie wieder ihr vorheriges Überlebens-Niveau erreicht haben. Hunderte Millionen Menschen haben ihre Arbeit verloren und stehen vor vielen Jahren der Entbehrung, der Not und des Überlebenskampfes.
Aber nicht nur die unmittelbare Lebensbedrohung, die häufig auf ein vollkommen unzureichendes staatliches Versorgungssystem zurückzuführen ist, gilt es zu beklagen. Schon vor der Krise musste knapp die Hälfte der Menschheit mit weniger als 5,50 US-Dollar pro Tag auskommen, die als die unterste Grenze zur absoluten Armut von der Weltbank angesehen werden. Bis zu 500 Millionen absolut armer Menschen könnten durch die Pandemie dazukommen. Oxfam dazu: „Die Pandemie und ihre Auswirkungen zeigen deutlich, dass der größere Teil der Menschheit nur einen Schritt vom Elend entfernt ist.“
In dieser Krise, die für so viele Menschen zur Überlebensfrage wird, gibt es Krisengewinnler, die die Gräben zwischen bettelarm und unfassbar reich weiter vertiefen. Oxfam weist energisch darauf hin, dass diese Entwicklung kein Naturereignis ist, sondern der Gier multinationaler Konzerne entspringt. „Während Millionen Menschen in Armut gedrängt werden, machen Konzerne und ihre Anteilseigner*innen weiterhin kräftig Gewinn – unter anderem durch übermäßige Ausbeutung natürlicher Ressourcen, das Drücken von Löhnen sowie Steuervermeidung. Letztere bringt Staaten um dringend benötigte Mittel für öffentliche Gesundheits-, Bildungs- und soziale Sicherungssysteme.“
Die Einflussnahme von Großkonzernen auf politische Entscheidungen von Regierungen nimmt weiter zu, und dies besonders im Globalen Süden. Laut Schätzungen des Tax Justice Networks gehen der internationalen Staatengemeinschaft jedes Jahr insgesamt mehr als 427 Milliarden US-Dollar an Einnahmen durch Steuervermeidung von Unternehmen und Steuerflucht von Privatpersonen verloren. Allein den Ländern des globalen Südens, so wurde ermittelt, entgehen dadurch mindestens 100 Milliarden US-Dollar. Um diese Zahl einordnen zu können, müssen wir einen Blick auf die Ausgaben für Entwicklungshilfe werfen: 2019 lagen sie weltweit bei rund 150 Milliarden US-Dollar.
Das Fazit der Autor*innen: „In der Tat stellt die Corona-Pandemie eine Zäsur in der Geschichte der Menschheit dar: Erstmals seitdem Ungleichheit statistisch erfasst wird, droht sie in praktisch allen Ländern zur gleichen Zeit anzusteigen.“
Entwicklungsminister Gerd Müller machte deshalb an Weihnachten 2020 in einem Interview einen interessanten Umverteilungsvorschlag: „Ich fände es angemessen, wenn sich superreiche Krisengewinner jetzt freiwillig an der Finanzierung der Krisenbewältigung beteiligen.“ Er wies beispielsweise darauf hin, dass Amazon-Chef Jeff Bezos im vergangenen Jahr um 57 Milliarden Euro reicher geworden sei und dass es in Mark Zuckerbergs Geschäftsjahr 2020 einzelne Tage gab, in denen sich sein Vermögen um acht Milliarden erhöhte.
An der Not so vieler und an dem unermesslichen Reichtum weniger und der Mitverantwortung der mächtigen Konzerne gibt es keinen Zweifel.
Die Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) kam zu dem Ergebnis, dass die Marktmacht der Großkonzerne eine exorbitante Lobbymacht hervorbringt, die ihrerseits weltweit systematisch zu steigenden Einkommensungleichheiten und Machtungleichgewichten in der globalen Wirtschaft führt.
Oxfam benennt am Ende seiner Studie klare Bedingungen für eine globale und strukturelle Veränderung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Verhältnisse. Die Autor*innen fordern, dass Grunddienste wie Bildung oder medizinische Versorgung gemeinschaftlich und solidarisch aufgebaut werden müssen und nicht der Profitmaximierung Einzelner überlassen werden dürfen. Sie fordern weiter, Unternehmen zu demokratisieren und gemeinwohlorientiert auszurichten, statt Profitmaximierung zum alleinigen Wohl der Kapitalgeber*innen und Eigentümer*innen zu erlauben. Und die Herausgeber der Studie fordern dazu auf, „vielfältige, inklusive und durchlässige Marktstrukturen [zu] schaffen, statt exzessive Machtkonzentration bei einzelnen Konzernen zu befördern.“
Lassen wir zum Schluss die Direktorin des Difäm (Deutsches Institut für ärztliche Mission) in Tübingen, Dr. Gisela Schneider, zu Wort kommen:
„Es ist eine Pandemie – also brauchen wir eine globale Antwort. Es reicht nicht, wenn alle Deutschen oder Europäer Zugang zu Impfstoff bekommen. Die Pandemie wird erst vorbei sein, wenn alle Menschen Zugang haben.“
In diesem Sinne hoffe ich, dass der Blick über den Tellerrand uns alle inspirieren kann, uns nicht mit den Gegebenheiten abzufinden, nur weil wir momentan noch zu den Gewinnern gehören bzw. wenigstens von den Gewinnern noch ausreichend profitieren und unser Über-Leben nicht unmittelbar in Gefahr ist.