
Gefahren für Robinhoods
Wolfgang Schäuble sagte 2015, als es um ein Ultimatum für griechische Hilfszahlungen ging, in seinem sehr schwäbischen Englisch den legendären Satz: „Am 28., 24 Uhr, isch over“. Dass an den weltweiten Finanzmärkten das Spiel auch bald „over“ sein könnte, davor warnt der Finanzexperte Wieslaw Jurczenko nachdrücklich. Es geht um den US-amerikanischen Computerspielehändler Gamestop und dessen extrem schwankende Aktienwerte.
Die Tagesschau berichtete Ende Januar von einem „Flashmob an der Börse“ und „Robinhood-Anlegern bei Gamestop“. Sven Giegold, Wirtschaftswissenschaftler und Grünen-Mitglied des Europaparlaments, schrieb dazu: „Diese Firmen ermöglichen Kleinanleger*innen den Handel mit Wertpapieren online oder via App und verlangen dafür nur geringe oder gar keine Gebühren. […] Schon seit einigen Jahren steigen die Nutzerzahlen deshalb kontinuierlich an. […] Der amerikanische Marktführer Robinhood […] hatte zuletzt rund 13 Millionen Kund*innen.“ Giegold nennt die Turbulenzen einen Kampf Davids gegen Goliath. Ein „Schwarm internetaffiner Kleinanleger“, die sich im Fall Gamestop über Robinhood organisiert hatten, spekulierten gegen die Leerverkäufe von Aktien durch große Hedgefonds.
Die Anleger*innen treiben durch ihren massenhaften Kauf die Aktie in die Höhe und damit die Hedgefonds in die Verluste. Während der vermeintliche Triumph der Underdogs bei vielen Sympathien auslöst, herrscht in Teilen der Finanzbranche, so Giegold, „blankes Entsetzen“.
Leerverkäufe ist ein Begriff, der regelmäßig im Zusammenhang mit Börsengeschäften auftaucht. Aber was sind Leerverkäufe eigentlich? Grob gesagt, wettet man auf den Kursverfall einer Aktie. Das geht folgendermaßen: Die Hedgefonds-Manager leihen sich Aktien eines angepeilten Unternehmens. Zum Beispiel von einem anderen Investor. Die Aktien müssen sie zu einem späteren Zeitpunkt zurückgeben. Wann und zu welchem Preis wird zum Zeitpunkt der Ausleihe vereinbart. Doch anstatt die Aktien einfach zu behalten, verkauft der „Shortseller“ diese am Markt. Er hofft, sie später wieder zu einem günstigeren Preis zurückkaufen zu können. Je billiger die Aktie bei Ablauf der Leihfrist, desto größer der Gewinn. Umgekehrt können große Verluste auftreten, wenn der Wert einer Aktie seit der Ausleihe gestiegen ist.
Citron Research, der Hedgefonds, um den es im Fall Gamestop geht, hat in der Vergangenheit besonders erfolgreich mit Wetten dieser Art Geld verdient. Citron Research wird von Andrew Left, einem Spezialisten für Leerverkäufe gemanagt. Er hatte bereits des Öfteren für großen Aufruhr an der Börse gesorgt, indem er Unternehmen und deren Kursentwicklung negativ bewertete und den Verkauf empfahl. Das hatte auch stets den zu erwartenden Effekt, dass der Aktienwert durch diese Empfehlung fiel. Im Falle Gamestop hatten Hedgefonds zunächst so massiv gegen die Aktie gewettet, dass das sogenannte Leerverkaufsvolumen bei 140 Prozent der ausstehenden Aktien lag. Der Umfang der Wette lag somit weit über der tatsächlich im Umlauf befindlichen Wertpapiere von Gamestop. Die Gier nach immensen Gewinnen hatte die Hedgefonds-Manager in diesen Irrsinn getrieben.
Diese Aktion erregte an den Börsen erhebliche Aufmerksamkeit. Und entfachte bei den Tradern von Robinhood eine riesige Welle der Empörung. Sie verabredeten sich zum massenhaften Kauf von Gamestop-Aktien. Was den Aktienwert innerhalb weniger Tage um bis zu 2800 Prozent steigen ließ. Dieses extreme Kurswachstum bringt Leerverkäufer in doppelter Hinsicht in große Schwierigkeiten. Jeder Cent nach oben ist ein Verlust für die Leerverkäufer. Bei steigenden Kursen läuft ihnen die Zeit davon. Unter großem Zeitdruck müssen sie Aktien kaufen, um ihre Leerverkaufsposition zu schließen. Durch den Kaufdruck treiben sie selbst das Kursfeuerwerk immer weiter in die Höhe. Es kam zu einem sogenannten „short squeeze“, in dessen Folge die Leerverkäufer in kürzester Zeit enorme Verluste einfuhren. Es wird geschätzt, dass im Zusammenhang mit der Gamestop-Aktie Hedgefonds bis zu 20 Milliarden US-Dollar Verlust gemacht haben und damit an den Rand eines Kollaps getrieben wurden. Klingt erstmal so, als hätten die kleinen Fische dem Hai ein Schnippchen geschlagen. Elizabeth Warren, ehemalige Kandidaten der Demokraten für den Präsident*innenposten des Landes, kommentierte entsprechend: „Plötzlich schreien die Milliardäre und manche Hedgefonds auf, weil sie nicht mehr die einzigen sind, die an erfolgreicher Manipulation Geld verdienen“.

Aber das ist eine riskante Einschätzung. Wieslaw Jurczenko, der ehemalige Chief Risk Officer der UBS Deutschland AG, schreibt dazu: „Derzeit wird nun vor allem darüber diskutiert, ob es sich bei der Aktion der Kleinanleger um verbotene Marktmanipulation handelt oder ob diese als Helden gefeiert werden sollten, die die Wallstreet-Zocker das Fürchten lehrten.“ Er widerspricht vehement der Einschätzung, dass es ja kein Schaden sei, wenn sich die Hedgefonds verzocken. Er warnt davor, dass die gigantischen Wetten der Hedgefonds das gesamte Finanzsystem kollabieren lassen können, zum Schaden von sehr vielen Kleinanleger*innen, Normalverdiener*innen und Steuerzahler*innen. Er sagt, die Robinhood-Trader seien keinesfalls Helden, sondern „[s]ie zeigen vielmehr nur auf, in welch ein Pulverfass sich der der Kapitalmarkt längst verwandelt hat.“ Auch Giegold bezeichnet den aktuellen Gamestop-Kurs als eine eindeutige Blase, die irgendwann platzen wird. Er befürchtet, dass professionnelle Anleger am Ende deutlich geringere Verluste haben werden als die Kleinanleger*innen.
Hedgefonds leihen sich für ihre aberwitzigen Wetten viel Geld, auch von „systemrelevanten“ Banken. Und da fällt uns doch wieder die Finanzkrise im Jahre 2008 ein. Das verwaltete Vermögen der Hedgefonds beträgt momentan weltweit circa drei Billionen US-Dollar. Die Eigenkapitalquote liegt häufig bei nicht einmal einem Prozent. Das wären also circa 30 Milliarden US-Dollar. Mehr ist nicht drin bei den Hedgefonds als sichere Liquidität. Weltweit. Bis zu 99 Prozent des investierten Geldes ist also geliehen. Und häufig außerhalb der mühsam aufgebauten und mäßig effektiven Bankenkontrolle, die weltweit nach dem letzten Crash von 2008 installiert wurde.
Hedgefonds sind Schattenbanken im grauen Kapitalmarkt, der praktisch nicht reguliert wird von den Aufsichtsbehörden. Ihr verwaltetes Vermögen wächst unaufhörlich seit der Finanzkrise trotz weltweiten Regulierungsversuchen. Schnell wird klar, dass auch diesmal die Allgemeinheit die Zeche zahlen wird. Und die Staaten weltweit außer Stande sind, eine weitere Finanzkrise abzuwenden oder zu verkraften. Die hohen nationalen Schuldenstände als Folge der Bankenrettung 2008 sind noch nicht abgetragen und aufgrund der Pandemie werden weitere Schulden in Höhe von hunderten Milliarden Euro angehäuft. Es bleibt also unausweichlich: Auch diesmal werden die Kleinanleger*innen und -Sparer*innen bezahlen. Und sie werden nicht „nur“ ihr Erspartes, sondern auch ihre Altersversorgung verlieren. Denn bei den Lebensversicherern gibt es keine Einlagensicherung. Was weg ist, ist weg.
„[I]m Hedgefonds-Business [zeigt sich] eine erschreckende Asymmetrie. Eine Person verdient hier meist mit geliehenem Geld ein Vermögen, das vielen anderen verloren geht, darunter häufig Anleger, die ihre Altersvorsorge in Aktienfonds investiert haben, Riester-Sparer oder Besitzer von Lebensversicherer-Policen“ bringt Wieslaw Jurczenko die Sache auf den Punkt.
Am einfachsten funktioniert eine Entschuldung von Staaten über sehr niedrige Leitzinsen und Inflation („Geldentwertung“) durch Währungsabwertungen. So kann das Vermögen der Sparer*innen klammheimlich zur Schuldentilgung herangezogen werden. Denn besonders die niedrigen Leitzinsen der Notenbanken gehören zu der größten und effektivsten Umverteilungsmaßnahme von Vermögen seit der Finanzkrise. Seit Jahren wird gefordert, die weniger riskanten von den riskanten Finanzgeschäften strukturell zu trennen, um die „Ansteckungsgefahr“ so gut wie möglich zu minimieren. Das gefällt den Hasardeuren an den Börsen und anderswo keinesfalls. „Die Finanzlobby weiß genau, dass dies das Ende eines Großteils ihrer Zockereien bedeuten würde. […] Wie gefährlich es ist, sie dennoch gewähren zu lassen, hat der Fall Gamestop, bei dem Kleinanleger für Chaos und milliardenschwere Verluste bei den mächtigen Hedgefonds sorgten, auf besonders eindrucksvolle Weise belegt.“ Und an die Regierungen weltweit appelliert Wieslaw Jurczenko: „Wer nun auch diesen Schuss nicht gehört hat, der muss schlichtweg taub sein.“